„Or discendiam qua giù nel cieco mondo“:
Welt und Szene in Dante Alighieris Commedia
Vortrag am 13. Oktober 2021 in der Ringvorlesung:
theatrum mundi: das Theater als Weltmodell
organisiert von Harm den Boer und Alexander Honold, Herbst 2021, Universität Basel
Mit Calderón de la Barcas barockem Drama El gran teatro del mundo ist die wohl bis heute wirkmächtigste Ausprägung des Topos vom ‘Welt-Theater’ entstanden; sie hat in den Werken zahlreicher internationaler Autor*innen der Neuzeit und der Moderne vielfältige Spuren hinterlassen. Stücke wie Das Große Weltttheater oder auch Das Leben ein Traum (La vida es sueño) entstammten zunächst einer Tradition des geistlichen Spiels (auto sacramental), bei dem auf einer vertikal dreigeteilten Bühne eine vermeintlich stabile religiöse Heilsordnung von göttlicher Sphäre, Menschenwelt und Unterwelt in Szene gesetzt wurde. Doch zugleich thematisierte Calderón (und seine Nachfolger) mit diesem Theatermodell auch eine barocke Gesellschaftsordnung, die tief durchdrungen war von dem Bewusstsein der Vergänglichkeit und Vorläufigkeit des irdischen Lebens in sozialen Rollen.
Es ist kein Zufall, dass gerade in der frühen Neuzeit und in der Epoche des Barock die modellhafte Darstellung der Welt im Ganzen für das Theater eine besondere Prägnanz gewann, wurde doch durch das geographische Entdeckungszeitalter erstmals die Gestalt des Globus als solche erfahrbar. Und mit den epochalen Umbrüchen, konfessionellen Spaltungen und Konflikten des 16. und 17. Jahrhunderts gelangte ein Wissen von der Unbeständigkeit sozialer Formen und Haltungen in das zeitgenössische Denken, das auch in Sinnbildern wie dem sich drehenden Rad der Fortuna oder in den Weltlandschaften der Gemälde eines Pieter Bruegel zum Ausdruck kam.
Über die besondere Konjunktur in der Barockzeit hinaus lässt sich der Topos des Welttheaters indes schon in die Antike zurückverfolgen, wo er in Spielmodellen der Tragödie und der Komödie auf vielfältige Weise Gestalt gewann. Auch in der Literatur der Aufklärung und der Moderne verlieren die Deutungsmuster des Welttheaters und der Theaterwelt nichts von ihrer Faszinationskraft. Die Basismetapher des gesellschaftlichen Rollenspiels erweitert sich dabei um Handlungskonzepte der menschlichen Willensfreiheit (vs. Prädestination), des Einsatzes von Simulation/Dissimulation, der Entfaltung von Repräsentation und Repräsentationskritik sowie der überspitzenden Darstellung und Kritik gesellschaftlicher Institutionen, die ihrerseits (etwa bei Dürrenmatt) einem gewissen Systemwahn unterliegen und sich mit der Welt gleichzusetzen drohen.
Die Ringvorlesung ist ausdrücklich interphilologisch und epochenübergreifend angelegt. Erwünscht sind Beiträge, die dem Topos des Welttheaters anhand einzelner Werke (Dramen, Prosa, Gemälde, Filme) oder auch in komparatistischer Perspektive nachgehen.
Zum Titelzitat des Vortrags (Inf. IV)
Vierter Gesang (Ü.: Hartmut Köhler)
Aus dem tiefen Schlaf, von dem mein Kopf benommen war, riss mich ein dumpfer Donnerschlag, und ich schüttelte mich wie einer, der unsanft geweckt wird.
Als meine Augen ruhiger geworden waren, sah ich um
mich und, auf die Beine gekommen, schaute ich angestrengt, an welchem Ort ich wohl sei.
Wahrhaftig befand ich mich am Rand des qualerfüllten Abgrunds, der betäubend widerhallt von endlosem Klagen.
Finster war er, und tief und neblig, und mochte ich auch noch so sehr hinunterstarren, ich konnte nichts unterscheiden.
»Jetzt steigen wir dort hinab in die blinde Welt«, sagte der Dichter und wurde dabei ganz bleich. »Ich werde als erster gehen, du als zweiter.«
Ich bemerkte, wie er sich verfärbte, und sagte zu ihm: »Aber wie kann ich mitgehen, wenn du Angst hast, wo du mir doch bisher immer Mut gemacht hast, wenn ich zweifelte?«
Darauf er zu mir: »Die Qual der Menschen, die dort unten sind, malt mir Mitleid aufs Gesicht, und das hältst du für Furcht.
Gehen wir, denn der lange Weg uns voran.« Damit betrat er — und mit ihm auch ich — den ersten Kreis, der sich um den Abgrund zieht.
Ruppemi l’alto sonno ne la testa
un greve truono, sì ch’io mi riscossi
come persona ch’è per forza desta;
e l’occhio riposato intorno mossi,
dritto levato, e fiso riguardai
per conoscer lo loco dov’io fossi.
Vero è che ’n su la proda mi trovai
de la valle d’abisso dolorosa
che ’ntrono accoglie d’infiniti guai.
Oscura e profonda era e nebulosa
tanto che, per ficcar lo viso a fondo,
io non vi discernea alcuna cosa.
«Or discendiam qua giù nel cieco mondo»,
cominciò il poeta tutto smorto.
«Io sarò primo, e tu sarai secondo».
Ill.: Ebstorfer Weltkarte, Public Domain