„Ungleichheiten des Wir: Tristan Garcia und Yannick Haenel“, Vortrag beim 36. Romanistentag 2019 in Kassel, Sektion 25: „Soziale Ungleichheit in Literatur und Film (Lateinamerika, Spanien und Frankreich)“, Sektionsleitung: Patrick Eser und Jan-Henrik Witthaus
Abstract zum Vortrag
Formuliert in einer Zeit der Aufstände der „gilets jaunes“, will der hier skizzierte Beitrag die Lektüre zweier politischer Texte zusammenführen: Der Schriftsteller und Philosoph Tristan Garcia geht vom immer schneller sich wandelnden „Wir“ im gegenwärtigen Frankreich aus. Garcias gleichnamiges Buch zeichnet ein Nous, ein politisches Subjekt, das zugleich inklusiv und exklusiv wirkt, in einer Gesellschaft von immer mehr Gruppen, die „Wir“ sagen. Ungleichheit verändert in diesem Rahmen seine Bedeutung, wenn „Wir“ nicht einfach „eine Gesamtheit von Personen“, sondern ein Einteilungssystem darstellt, das den Gerechtigkeitssinn je ordnet. So ist das „Wir“ Garcias nicht gruppenspezifisch angelegt: „Avec ce livre, je fais, temporairement, usage d’empathie. Rien de ce qui dit „nous“ ne peut m’être étranger. Même le „nous“ fasciste, même le „nous“ derrière Donald Trump. Il doit y avoir une logique humaine derrière cela. Ceux qui disent „nous“ ont quelque chose de commun avec moi.“ (Tristan Garcia im Interview, Les Inrockuptibles, 8. Januar 2017.) Im Folgenden soll die kritische Lektüre von Garcias Argumentation angewandt werden auf Yannick Haenels Roman Les renards pâles, in dem der Pariser Aussteiger Jean Deichel von einer unpolitischen Existenz aus zunächst seine eigene einsame gesellschaftliche Ausgrenzung vorantreibt, sich dann mit illegalen afrikanischen Einwanderern zu einem revolutionären Wir zusammentut, das auch die Erzählperspektive des zweiten Teils sein wird, die in eine Großdemonstration von Maskierten führt: „Ohne dabei in akademische Grundsatzdiskussionen zu verfallen, gelingt es dem Autor, kopflastige Gesellschaftstheorien als verdaubare Volksnahrung zu verpacken und sie als Erzählungen erfahr- und lebbar zu machen. […] Mithilfe von Masken legen die Aufbegehrer ihre bürgerlichen Identitäten ab, um Raum für eine neue Subjektivität zu schaffen“ (so Björn Hayer am 24.10.2014 in der NZZ).
Sektionsexposee
Sektion 25: „Soziale Ungleichheit in Literatur und Film (Lateinamerika, Spanien und Frankreich)“
Sektionsleitung: Patrick Eser und Jan-Henrik Witthaus
Bevor die Darstellung sozialer Ungleichheit in der Literatur thematisiert wird, sollte zu Bewusstsein kommen, dass sie selbst in europäischer Tradition auf sozialer Ungleichheit beruht. Dies gilt zuallererst aufgrund der bildungssystemischen und medienhistorischen Voraussetzungen, die ihren Zugang regulierten und ihre Wirkung auf eine kleine Gruppe beschränkten, bevor Alphabetisierung und Bildungspolitik der Moderne diese Limitierung abschwächten. Schon die Frage nach der Darstellung sozialer Ungleichheiten wirft die Problematik auf, wer was wie darstellt – eine Problematik, die sich für Narrative, Fiktionen und Figurationen wie für die analytischen Betrachtung von Mediendarstellungen und öffentlichen Diskursen gleichermaßen stellt. Zudem unterliegt die traditionelle Literaturproduktion im Paradigma des ‘repräsentativen Regimes der Kunst‘ (Rancière) stilistischen und thematischen Bindungen, die nur epochenweise unterlaufen oder konterkariert wurden, etwa in den Formen eines christlichen Realismus (Auerbach) oder in der literarischen Karnevalesken (Bachtin). Indessen verweisen noch in der Moderne die Zugangsbedingungen zu Bildung sowie zu kanonischer Literaturproduktion und -rezeption auf soziale Ungleichheiten. In den Ländern der Romania und ihren literarischen wie intellektuellen Feldern zeigen sich diesbezüglich große Unterschiede, die nicht nur zwischen Europa und Lateinamerika, sondern auch innerhalb dieser großflächigen ‘Kulturräume‘ wirksam werden.
Im hier vorgeschlagenen Fokus verstehen wir soziale Ungleichheit als den unterschiedlichen Zugang zu materiellen Ressourcen sowie die Prekarisierung vorhandener Besitzstrukturen und Lebensverhältnisse. Zudem sollen im gleichen Zusammenhang symbolische und alltagskulturelle Manifestationen sozialer Divergenzen aufgezeigt werden, die entlang der diskursiv hergestellten Merkmale von „class“, „race“ und „gender“ (Intersektionalitätsansatz) in ihrer komplexen Verflechtung sichtbar zu machen sind. Wenn Gesellschaft dort stattfindet, wo man sich unterscheidet, wie Pierre Bourdieu einmal formuliert hat, dann wäre (a) nach den literarischen Mitteln der Umsetzung solcher Unterschiede zu fragen, d.h. eine Darstellung von Armut wird vor allem dann relevant, wenn sie zu anderen gesellschaftlichen Verhältnissen kontrastiert wird. Ferner sind binnengesellschaftliche Grenzziehungen von Relevanz. Ein besonderes Gewicht kommt dabei dem Begriff der ‘relativen Deprivation‘ (Runciman) zu, weil hiermit die phänomenologische Ebene der Bewusstwerdung von Krisen und Armut angesprochen werden. Als ein auf die Reflexion unterschiedlicher Perspektiven spezialisiertes Medium, scheint uns die Erzählliteratur für die Behandlung relativer Deprivation prädestiniert zu sein, d.h. es geht primär um das erlebte und als erlebt markierte Prekariat und um die Vergleichsstrukturen, die zu einem solchen Erleben führen. Es wäre weiterhin (b) nach der Komplexität der Beobachtung von Ungleichheit zu fragen, die über literarische Texte initiiert wird. Wer spricht? Wer erzählt? Welche Beobachtungen mehrfacher Ordnung (Luhmann) sind hierbei zu benennen? Ferner ist (c) darüber nachzudenken, in welcher Weise Literatur die ungleichen Verteilungsbedingungen ihrer Bildungsvoraussetzungen reflektiert oder in welcher Weise man davon sprechen kann, dass sie an ihrer schwer abzustreifenden Komplizenschaft mit sozialen Herrschaftsformen laboriert. Schließlich steht (d) zur Debatte, mit welchen Mitteln das Medium Film einerseits das Komplexitätsniveau literarischer Äußerungen hält oder andererseits als ‘niederschwelliges Angebot‘ neue ‘Aufteilungen des Sichtbaren‘ (Rancière) ermöglicht.
Die geplante Sektion nähert sich diesen Fragen mit einem ausgeprägten Fokus auf die rezenten Literaturen Lateinamerikas, Spaniens und Frankreichs – romanische Literaturen und Kulturen, in denen vermeintliche Rückkehren des Sozialen oder ästhetischer Entwürfe des „Realismus“ unter dem Aspekt der Ungleichheit zu beobachten sind oder diskutiert werden. Geplant und gewünscht ist dabei ein Schwerpunkt zum lateinamerikanischen Kulturraum, einer Region des globalen Südens, in der – neben dem subsaharischen Afrika – gegenwärtig die beträchtlichsten sozialen Ungleichheiten zu verzeichnen sind. Die aus diesem Raum hervorgehenden literarischen wie filmischen Erzählungen weisen eine ausgeprägte Sensibilität für gesellschaftliche sowie politische „Realitäten“ auf, die für die Fragestellungen der Sektion von besonderer Relevanz sind. (Quelle)