Inhalt

1920-2020

Französische Avantgarden und hundert Jahre ‚andere‘ Realitäten

Angela Oster (LMU München)

und

Kai Nonnenmacher (Univ. Bamberg)

Frankoromanistentag

Sektion des Frankoromanistentags Wien (23. bis zum 26. September 2020)

Informationen zum Tagungsrahmen vgl.

Sektionsprogramm

Die ausgewählten Beiträge

Sektionsausschreibung

Die französische Gegenwartsliteratur wird (wieder) hoch beachtet, allerdings unter fundamental veränderten gesellschaftlichen und künstlerischen Bedingungen im Vergleich zur klassischen Avantgarde: als mediale Intervention etwa, als autofiktionale Form von Subjektivität oder als Fiktion aussetzender Tatsachenroman. Doch die von den Avantgarden geforderte ‚andere‘ Realität im Text bleibt auch Gegenstand der französischen Gegenwart. Die Sektion nimmt das übergeordnete Thema des Frankoromanistentags 2020 „Au carrefour d’idées – Entscheidungswege“ zum Anlass, französische Avantgarden, ihre Manifeste, Proteste und Texte neu zu überdenken und die Folgen zu sichten.

Hundert Jahre nach dem laut Breton „ersten rein surrealistischen Werk“, Les Champs magnétiques (Breton/Soupault, 1920), stellen sich im Anschluss weitere Avantgarden der Herausforderung, ‚andere‘ Realitäten im Kreuzungspunkt überkommener Tradition und skandalöser Innovation als „magnetische“ Strahlkraft zu erforschen. Nach 1920 werden maßgebliche Entscheidungswege für das getroffen, was eine Avantgarde der Zukunft sein soll, und zwar interessanterweise in klarer Abhebung zu Italien, wo ebenfalls im Jahr 1920 Marinettis „Al di là del comunismo“ erscheint. Die ‚magnetische‘ Anziehungskraft von Avantgarden und Manifesten und ihrer Protestaktionen bleibt bis auf den heutigen Tag ungebrochen, was die Sektion in ausgesuchten Feldern von Moment- und Ereignishaftigkeit bis hin zur aktuellen Literaturproduktion analysieren wird.

Sowohl die Gruppen Oulipo und Tel Quel als auch ihre exponierten Mitglieder (Kristeva, Barthes, Sollers, Roubaud, Perec) setzen Kreuzungspunkte ganz konkret in ihren ‚Texturen‘ in Szene – die provokativ und kreuzweise ‚gegen den Strich‘ gewebt werden. Und auch der Nouveau Roman und Nouveau Nouveau Roman experimentieren zuvor ebenfalls mit Magnetismen von Kreuzungspunkten, deren geradezu körperliche Greifbarkeit bereits die Pataphysik im Visier hatte. Die Gruppe Oulipo wiederum ist in ihrer Betitelung als „Werkstatt für Potentielle Literatur“ ein Paradebeispiel der Literatursuche „au carrefour d’idées“.

Eigenwillige Kreuzungspunkte sowohl in Anbindung an als auch in Abhebung von der Tradition unternehmen französische Autoren der Gegenwart, wie der ‚literarische Aktivismus‘ (so Andreas Rötzer) von Mathieu Riboulet, der avantgardistische Barock Pascal Quignards und die dekadente Avantgarde Michel Houellebecqs. Die gegenwärtigen Machtverhältnisse begreifen nicht zuletzt weibliche Autorinnen wie Yasmina Reza, Marie NDiaye als Netzwerk von Entscheidungs- und Kreuzpunkten, in denen sich bestehende (Geschlechter-) Verhältnisse neu ordnen. Wie spiegeln sich also die Poetiken der Gegenwart in den hundert Jahren seit den Champs magnétiques und die historisch gewordenen Avantgarden im heutigen Status von Kunst?

Auswahlbibliographie

 

Ill.: André Breton portant un costume dessiné par Francis Picabia au festival Dada à Paris, 1920 – source : WikiCommons