Julius Goldmann und Robert Hesselbach, „Interview mit Kai Nonnenmacher“, Promptus 4 (August 2018): 5–18.
[Druckfahne des Interviews, pdf]
Kai Nonnenmacher (*1970) studierte an den Universitäten Heidelberg und Mannheim Romanistik und Germanistik, Musikwissenschaften und Psychologie und promovierte in einem mediengeschichtlichen DFG-Projekt mit einer Arbeit über die Ästhetikgeschichte der Blindheit in Frankreich und Deutschland, welche unter dem Titel Das schwarze Licht der Moderne im Jahre 2006 bei Niemeyer erschienen ist. Er erlangte 2012 die Habilitation mit einer Arbeit über Katholizismus und Modernismus in Frankreich und Italien an der Universität Regensburg, wo er bis 2017 in Forschung und Lehre tätig war. Nach einer Lehrstuhlvertretung in Aachen wurde Kai Nonnenmacher 2018 auf die Professur für Romanische Kultur- und Literaturwissenschaft an die Otto-Friedrichs-Universität Bamberg berufen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten bzw. -gebieten gehören u. a. politisches Denken und literarische Form, Sinnesdiskurse und Ästhetikgeschichte, der französische und italienische Roman der Gegenwart, Lyrik, aber auch Mittelalter und Frühe Neuzeit. Daneben beschäftigt er sich praktisch mit der sich im Wandel befindlichen Publikationskultur der Wissenschaft und gründete die online frei zugängliche Fachzeitschrift Romanische Studien (http://www.romanischestudien.de), die in gedruckter Form bei der Akademischen Verlagsgemeinschaft München erscheint.
promptus: Wie bist Du zur Romanistik gekommen und welchen Beruf hättest Du alternativ ergriffen?
Kai Nonnenmacher: In Baden-Württemberg konnte ich bereits ab der 5. Klasse und bis zum Leistungskurs neun Jahre Französisch lernen. Ich habe dann aus verschiedenen Interessen heraus zunächst Germanistik, Musikwissenschaften und Psychologie studiert. Erst nach meinem Wechsel an die Universität Mannheim kam dann Französisch als Lehramtsfach hinzu. Eine Zeit lang habe ich mich auch noch als Germanist gesehen, wie man auch an meiner Doktorarbeit erkennen kann, allerdings interessiert mich als Forscher die Fremdheit einer Kultur mehr als die eigene. Mein Doktorvater Charles Grivel hat mir nahegelegt, mich in einen Magisterstudiengang umzuschreiben. Dies sei möglicherweise noch von Nutzen, sobald man einmal keine Stelle habe, würde einem sonst das Lehramt nahegelegt. Als Kind wollte ich lange Paläontologe werden, las alles über die Vorzeit, über Sedimente, ausgestorbene Tiere, und metaphorisch gesehen ist das Ausgraben historischer Schichten ja auch für die Romanistik zentral.
promptus: Wie beurteilst Du momentan den Stellenwert der Literaturwissenschaften in den Lehramtsstudiengängen?
Kai Nonnenmacher: Die Rubrik «Ars legendi» der Romanischen Studien reagiert ja darauf, dass sich die Fachwissenschaften und die pädagogische Ausbildung wieder stärker trennen, bedingt durch die Professionalisierung der Lehrerbildung und durch die Ersetzung einer Bildungs- durch eine Kompetenzidee. Dies kommt aber auch auf das Bundesland an: In Baden-Württemberg etwa ist die Lehrerbildung stärker auf Pädagogische Hochschulen und die Universität verteilt als in anderen Bundesländern. Dazu kommt, dass durch Lehramtszentren Fachwissenschaften und Didaktik in Stellenkonkurrenz treten, was im Moment vielleicht überraschend dazu führt, dass man Doppelprofessuren ausschreibt, die Literaturwissenschaft und Fachdidaktik zusammen abdecken sollen. Auf der einen Seite kann das innovativ sein. Auf der anderen Seite haben die Romanisten die Vertreibung der Literatur aus dem Fremdsprachenunterricht ja bereits verschlafen. Für die Lehramtsausbildung in der Romanistik sind wir im Moment in einer Zwischensituation, denn man muss fragen, wie lange dann noch LehramtskandidatInnen anspruchsvolle historische Dichtung bearbeiten sollen, die sie später in der Schule nicht behandeln können. Ich empfände es als Verlust für den Unterricht, wenn Literaturvermittlung damit aus dem Fremdsprachenunterricht verschwände. Andererseits kann man mit Recht fragen, warum der kulturwissenschaftliche Anteil der Ausbildung nicht längst erhöht wurde, in Bayern etwa ist da nur ein landeskundlicher Teil im Rahmen einer Sprachprüfung relevant.
promptus: Warum würdest Du SchulabgängerInnen ein Romanistikstudium empfehlen?
Kai Nonnenmacher: Es kommt darauf an, mit welchem Ziel diese Wahl getroffen wird, Lehramtsstudierende, Romanistennachwuchs und BewerberInnen für interdisziplinäre, praxisorientierte Studiengänge tummeln sich ja oft in derselben Lehrveranstaltung. Die curriculare Entwicklung zum literarisch und wissenschaftlich belesenen Menschen sollte durch wirkliches Interesse jenseits bloßer Modulzwänge erfolgen, denn dies sind später diejenigen, die der Gesellschaft als Ansprechpartner in diesem Bereich dienen können, soweit RomanistInnen noch öffentlich in Erscheinung treten, aber kann dies das Studium heute gewährleisten? Karriereberechnung im Sinne der employability kann sich schnell ändern, wer etwa nur ein sicheres Lehramt im öffentlichen Dienst anstrebte, musste in den letzten Jahren negative Bedarfsprognosen der Lehrerstellen und damit einen Einbruch der Studierendenzahlen erleben. An öffentlich sichtbaren Mittlerfiguren fehlt es der Romanistik gegenwärtig (man denke nur kürzlich an Frankreich als Gastland der Buchmesse), so wie übrigens das hochschulpolitische Ziel der Internationalisierung häufig ambivalente Folgen hat, als Umorientierung auf romanische oder amerikanische Wissenschaftssysteme. Jemandem, der ein Interesse an den Kulturräumen der Romania hat und den es reizt, in den öffentlichen Debatten um europäische Unterschiede Hintergründe zu verstehen, für ihr Land ein Korrespondent gegenüber Deutschland zu sein oder eine Arbeit in einem international agierenden Betrieb aufzunehmen, dem würde ich das Studium der Romanistik empfehlen, wenn man sich aber auch selbst mit Praktika, Auslandsaufenthalt oder eigener Lektüre aktiv engagiert, das ersetzt kein bloßes Füllen von Modulen. Die Universitäten selbst interessieren sich heute eher für interdisziplinäre Schnittstellen als für disziplinäre Strukturen eines Fachs, ähnlich der Forschungsförderung: Was im Fach anerkannt ist, muss es nicht im Präsidium oder in einem Exzellenznetzwerk sein. Aber in einer chronisch unterfinanzierten Universität braucht man eben Drittmittelanträge.
promptus: Inwieweit kann die Romanistik auf die Gesellschaft rückwirken und ihr von Nutzen sein?
Kai Nonnenmacher: Nehmen wir als Beispiel den déclinisme, so nennen die Franzosen ihre kulturelle Stagnations- und Niedergangsstimmung der letzten Jahre, bis Macron kam. Nachdem die Politikwissenschaft sich zunehmend in eine empirische und politikberatende Richtung entwickelt, halte ich eine kulturund literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit solchen Texten und Diskursen Frankreichs und Italiens für sehr fruchtbar. Die Untersuchung von Tendenzen, Frankreich quasi herabzusingen, wie es Schriftsteller wie Houellebecq oder Sachbuchautoren wie Onfray oder Zemmour tun, zeigt, dass hier andere Denktraditionen und -stile vorherrschen, die nicht eins zu eins auf Deutschland mit ähnlich erscheinenden Autoren wie Sarrazin zu übertragen sind, ähnliches gilt für die Unterschiede der Populisten der einzelnen Nationen. Die europäische Einigung lässt uns Ähnlichkeiten in den Blick nehmen und manchmal die Differenzen und ihre historischen Wurzeln übersehen, hier kann die Romanistik einiges leisten. Am Beispiel der Hochschulreform zeigt sich das ja ebenfalls, denn die nationale Bildungstradition der Humboldt-Universität war leider sehr viel weniger an den Bolognaprozess anschließbar als die akademische Tradition in anderen Ländern. Ich empfand in Mannheim und in Regensburg die interdisziplinären Studiengänge immer als organisatorisch hoch aufwändig und wenig nachwuchsbildend, aber es ist wichtig, Generalisten auszubilden, die für solche Differenzen sensibilisiert sind.
promptus: Inwieweit ist unser Fach Deiner Meinung und Erfahrung nach abhängig von der politischen Situation des Landes? Verliert beispielsweise die Italianistik durch die instabile Lage dort auch hierzulande an Gewicht?
Kai Nonnenmacher: Ein echter Bürgerkrieg würde im Gegenteil jahrzehntelang Drittmittelforschung generieren. Aber Spaß beiseite: Die Zahl der Italianistikstudierenden scheint mir recht konstant geblieben zu sein. Dennoch haben sich die Verhältnisse unter den drei großen romanischen Sprachen verschoben, und ich sehe nicht, dass der neue Optimismus Macrons sehr viele Neueinschreibungen im Französischen bewirken würde. Der Erfolgskurs der Hispanistik und dabei stark der Lateinamerikanistik hat ja auch nicht gerade mit einer boomenden Wirtschaft in Spanien oder Südamerika zu tun. Ich empfinde die Literaturgeschichte Italiens als ungleich reichhaltiger, um ehrlich zu sein, aber innerhalb der Fächer wechseln ja nach 1945 immer neu die Begründungen im Binnenverhältnis der Teilsprachen, man denke an die Rolle des Portugiesischen in der DDR-Romanistik, an eine Orientierung der deutschen Linken an Bewegungen in der Romania, auch am Italien der 70er und 80er Jahre. Eine spielerische italienische Subversion dieser Zeit und noch der Postmoderne ist gegenwärtig kaum sichtbar. Erst relativ spät hat man sich für eine Integration der Kulturwissenschaft in der Italianistik stark gemacht, wenn ich das an den Italianistentagen beobachte, inzwischen hat die Italianistik sich von ihrer Epochenwahl her stärker auf einen konservativen Kanon zurückgezogen, vielleicht auch weil Intellektuelle wie Eco, Pasolini oder Feltrinelli heute fehlen. Wo sind heute die Interpretationen der Gegenwartsliteraten und des starken Films aus Italien? Eine Stimmung wie die des Films Buena Vista Social Club hat für die Hispanistik ein Bild von weltoffener Zugänglichkeit bei Studierenden erzeugt, was die klassische Italianistik vielleicht nicht (mehr) in vergleichbarer Weise bietet, die starke Vormoderne Italiens liegt nicht mehr wie früher im Fokus der gegenwärtigen Universitäten, scheint mir. Auch in einigen aktuellen Forschungsbereichen blieben die Felder für Italien eher unbearbeitet: Der Kolonialismusdiskurs ist für Italien nicht wie für Lateinamerika vorhanden und ich kenne auch etwa keine weit verbreitete Genderforschung in der deutschen Italianistik der Frühen Neuzeit, wie sie in der internationalen Forschung existiert. Da hat das Fach gegenwärtig teilweise eine Art Rückzugsgeste von sich selbst aus vollzogen, übrigens gilt das nicht in dem Maße für die österreichische Italianistik, wo das Italienische sehr stark bleibt. Andererseits sehe ich im Moment italienischen Nachwuchs nach Deutschland streben, es scheint mir mit dem Generationenwechsel der ProfessorInnen ein Internationalisierungsschub in den Forschungskontakten einzusetzen, der allerdings die Vermittlerrolle einer auf Deutschland ausgerichteten Romanistik ja auch weiter schwächen könnte.
promptus: Die Tendenz, ältere und alte Sprachformen sowie Texte nicht mehr so zu berücksichtigen, wie es eigentlich traditionell der Fall war, ist deutlich spürbar. Macht diese Entwicklung das ursprünglich so gelobte und im Ausland geschätzte Herausstellungsmerkmal der deutschen Romanistik nicht zunichte?
Kai Nonnenmacher: Die französische Mediävistik beispielsweise kann nicht unmittelbar erschlossen werden, sondern Altfranzösisch muss erlernt werden. Durch den Rückbau der Mediävistik bildete man verstärkt interdisziplinäre Mittelalter- und Frühe Neuzeit-Zentren, aber während sich Mittelalter-Historiker und germanistische Mediävisten zu vollem Spezialistentum ausbilden dürfen, können Romanisten mit einer Breite vom 12. bis 21. Jahrhundert da natürlich nicht mithalten. Nehmen wir als Beispiel etwa den Lektürekanon des Bayerischen Staatsexamens: Hier fanden sich noch vor nicht allzu langer Zeit die gesamte Commedia, der gesamte Canzoniere und der gesamte Decamerone aufgeführt. Mittlerweile findet sich dort eine etwas pragmatischere Auswahl. Kann man ein solch volles Wissen noch von Romanistikstudierenden voraussetzen? Ich bezweifle das, denke aber auch, dass man mit einer zunehmenden Konzentration auf die Zeit seit dem 19. Jahrhundert bestimmte Kontinuitäten nicht mehr sehen wird. Man wird sich schwer tun, die italienische Lyrik des 20. Jahrhunderts eines Zanzotto zu erfassen, wenn man diese tiefe Kontinuität bis zur Scuola Siciliana ausblendet. Diese Linien dienen ja gerade in einem Land wie Italien, das erst sehr spät eine politische Einheit erhält, als ideelle Einheit.
promptus: Wie siehst Du die aktuelle Situation für den wissenschaftlichen Nachwuchs im Allgemeinen und für die Romanistik im Speziellen?
Kai Nonnenmacher: Ich erinnere mich noch an eine Zeit, in der publish or perish noch längst nicht die Devise der Massenproduktion von Texten mit wissenschaftlichem Anspruch war (man verbot es regelrecht, vor der Promotion zu publizieren), diese Entwicklung hat sich aber mittlerweile selbst ad absurdum geführt, und vielleicht wird ja Open Access und Digitalisierung der Überhitzung von Publikationsdruck abhelfen, gerade weil man jenseits der Materialität alles in großem Umfang publizieren könnte, wird die Qualität und die Tugend der brevitas wichtiger. Ein anderes Extrem stellt sich mir auf Verbandstagungen dar, auf denen Nachwuchs zu Nachwuchs spricht und die ProfessorInnen teilweise nicht mehr präsent sind, da sich die Masse der Tagungen und Sektionen zumal mit der Vielzahl von Fachverbänden erhöht hat. Da wäre vielleicht Verknappung eher dienlich. Initiativen wie das Forum Junge Romanistik befürworte ich sehr und habe dort selbst schon frühzeitig nicht nur Kontakte geknüpft, sondern auch Freundschaften geschlossen. Ich hatte mich damals beim Ausbau von romanistik.de so stark engagiert, weil ich der Meinung war, dass Dinge wie Stellenangebote oder das eigene Forschungsprofil möglichst offen kommuniziert werden müssten.
Für den Nachwuchs gelten jedoch relativ konservative Ratschläge von mir. Man sollte sich nicht allzu sehr um der Sichtbarkeit willen verzetteln in vielen Sammelband-Projekten, sondern lieber zwei, drei möglichst auch längere Aufsätze in Fachzeitschriften nicht nur zu den modischen Themen verfassen. Eher klassische oder auch originelle Zugänge sind durchaus von Vorteil. Ein österreichischer Kollege sprach mir gegenüber kürzlich vom «überhitzten deutschen System», das vom Nachwuchs ein permanentes Trampeln und Treten abverlange. Die Konkurrenz ist durch das massenhafte Generieren von Nachwuchs durch Graduiertenkollegs und SFBs gewachsen, und Kennzahlen- und Zielvereinbarungswesen der Universitäten setzen teilweise ProfessorInnen unter Druck, die Zahl der Promotionen weiter zu erhöhen. Ich habe übrigens in den letzten Jahren immer weniger verstanden, warum es Mentorinnenprogramme und Stipendienprogramme nur für Frauen in einem Fach gibt, das binnen kurzer Zeit zu einem Frauenfach geworden ist, was übrigens dem Fach durchaus gutgetan hat. Geschlechtergerechtigkeit beträfe aber je nach Fach auch den männlichen Nachwuchs.
promptus: Wie stehst Du zum Peer-Review-Verfahren?
Kai Nonnenmacher: Ich habe dieses Verfahren als sprödes, teilweise sogar vermintes Terrain erlebt, und es wird leicht zum Fetisch. Die Romanistik bleibt verglichen mit der internationalen Soziologie oder Geschichte ein eher kleines Fach, daher fragt man schnell die gleichen Personen als Reviewer an. Der wissenschaftliche Gewinn der kostenintensiven und teils durch die Beiträger zu bezahlenden Reviewpolitik bleibt oft gering. Hinzu kommt, dass sich die ExpertInnen im kleinen Kreise der Romanistik vermutlich sowieso erschließen können, von wem der Text stammt. Qualitätssicherung bleibt unerlässlich, aber Peer Review und bibliometrische Faktoren dienen nicht zuletzt ökonomischen Interessen großer Fachverlage, sie bedrohen die Geisteswissenschaften, wenn Universitäten ihre Mittelvergabe an fachfremde Kriterien der Forschungsberichte knüpfen, wir brauchen nun mal keine Großgeräte, sondern vor allem Bücher und Zeit.
promptus: Unser Fach ist offensichtlich in Bewegung, wie es auch von einer der ersten DRV Sommerschulen thematisiert wurde. Wie stehst Du zum Trend der einzelphilologischen Forschung? Wird das eventuell die Weiterentwicklung des Fachs beeinflussen?
Kai Nonnenmacher: In gewisser Weise ist die Konstruktion einer Gesamtromanistik über neolateinische Sprachen arbiträr bzw. romantisch. Viele Fächer, die ursprünglich als Teil der Philologien begonnen haben, haben sich später abgespaltet – wie beispielsweise die Volkskunde. Warum inkorporiert die Romanistik beispielsweise die Medienwissenschaft nicht? Wird es nun auch bloße French Studies oder Italian Studies geben? Umgekehrt sind häufig übergreifendere Perspektiven politisch gewünscht wie World Literature oder Kulturkonzepte wie Hybridität. Wir müssen uns fragen, ob wir wirklich zu einer Forschung wollen, die dann die Texte ähnlich wie in Amerika nicht einmal mehr in der Originalsprache liest. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass ein bis zwei LiteraturwissenschaftlerInnen für vier Sprachen dann durch je eine Person pro Sprache ersetzt würden, so gesehen ist die Romanistik ja stellensparsamer als die Einzelphilologie. Da wir gerade bei globalen Forschungsperspektiven sind: Am Beispiel der Kulturwissenschaft als ursprünglich antibürgerlicher Teildisziplin (etwa als Cultural Studies, gegen elitäre Autonomiebegriffe) müssen wir uns heute auch fragen, ob wir nicht inzwischen in einer universitären Gesinnungsblase forschen und ob wir uns der Welthaltigkeit unserer Konzepte wirklich noch sicher sein können. Während wir in den Seminaren kulturelle Vielfalt forciert haben, eine Kultur der Differenz, der Minderheit und der negativen Erinnerung, werden in Europa identitäre Ängste und Bedürfnisse populistisch befriedigt, die anders keine Resonanz mehr bekamen. In der Literaturwissenschaft wurde der Fokus darauf verlegt, die Stimmen der Unterdrückten gegenüber der privilegierten Stimme hörbar zu machen. Als (gar nicht mehr so neue) Erneuerungsbewegung des Fachs beschäftigen wir uns historisch nachvollziehbar mit Pluralität, Integration und Modernität – aber irgendwann wird wohl ein kühler Verfassungspatriotismus auch nicht mehr ausreichen, wenn an allen Ecken Europas die Nationalisierungsbestrebungen wieder aufblühen. Das macht mir gegenwärtig Sorgen. Wir haben fachspezifische Themen wie die Metapher zugunsten von Relevanz versprechender Themen aufgegeben, Folter, Kriege und Menschenrechte etwa. Paradoxerweise hat die Ausweitung der Kulturwissenschaften zu einer Entwertung der Landeswissenschaft geführt, sollen RomanistInnen aber nicht auch kompetent für die kulturellen Realitäten des Landes sein? Haben wir mit den Themen der Kulturtheorie noch ein bestimmtes Bild von dem im Blick, was ein Romanist wissen sollte? Letzten Endes hat die Umorientierung auf Kultur eine Umformulierung der Literaturwissenschaft und eine starke Theoretisierung bewirkt. Bei vielen unserer kulturwissenschaftlichen Veranstaltungen klafft eine gesellschaftlich anschließbare Relevanz und die Reputationskultur unseres Fachs wiederum auseinander. Ich würde mir wünschen, dass es einen Ort für solche Fragen gäbe, in den Mitgliederheften und auf den Mitgliederversammlungen der Fachverbände vermisse ich fachpolitische Debatten leider weitgehend.
promptus: Macht diese Vielfalt innerhalb der Romanistik das Vorankommen für NachwuchswissenschaftlerInnen dadurch Deiner Meinung nach schwieriger?
Kai Nonnenmacher: Zu Beginn unserer universitären Fachgeschichte gab es eine relative Übereinkunft, was man zu beherrschen und zu tun hatte, um Romanist zu sein. Inzwischen ist es eher eine Stilentscheidung (auch je nach Studienort), die nicht alle Wege offenhält. Ich glaube, man kann niemandem raten, gleichzeitig über Petrarca und Kinderliteratur zu arbeiten, da man sich in den jeweiligen Kreisen positionieren müsste, für die man eine gewisse wissenschaftssoziologische Sensibilität entwickeln sollte, wenn man eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen will. In Zeiten des Rückbaus von Stellen gilt das umso mehr.
promptus: Wie sollte sich Deiner Meinung nach die ideale Postdoc-Phase gestalten? Über eine Einbindung am Institut, Stipendien oder doch eher im Elfenbeinturm? Hast Du dazu Erfahrungen oder Ratschläge?
Kai Nonnenmacher: Die Postdoc-Phase ist ja genauso in Bewegung wie die Romanistik selbst. Die Rahmenbedingungen sind geprägt von an und für sich gut gemeinten Reformen, von denen leider oft nur die erschwerenden Regelungen übriggeblieben sind. Es ist im Prinzip ja eine gute Idee, eine Stelle mindestens so lange zu vergeben wie auch die Qualifikationsphase andauert. Es führt aber ebenso auch dazu, dass man gar niemanden einstellen kann, wenn man nur Geld für ein Jahr zur Verfügung hat. Die bekannte Zwölfjahresgrenze musste erst gelockert werden, etwa im Falle von Drittmitteln, davor war das quasi wie ein Berufsverbot. Die jetzt Habilitierten auf Stellensuche – und es gibt ihrer viele – fluchen über die neuen Ausschreibungen von W1-Professuren mit Tenure Track, denn darin werden Altersgrenzen genannt, die eine ganze Generation Habilitierter jetzt benachteiligt. Eigentlich müsste man jetzt doch ein Übergangsprogramm wie die früheren Fiebiger-Professuren schaffen für die jungen Habilitierten, die Wanka-Professuren sind ja nur ein sehr kleiner Tropfen.
promptus: Ist das Bildungssystem in gewisser Weise also als verantwortungslos zu bezeichnen, wenn es einen derartigen Fachkräfteüberschuss erzeugt? Brauchen wir eine neue Verantwortung an dieser Stelle?
Kai Nonnenmacher: Für die künftigen Post-Docs bedeutet der neue Karriereweg, wenn er wie propagiert kommt, eine große Verbesserung der Postdoc-Karriereplanbarkeit, deren Tenure-Evaluation wird in der Regel rational und sachbezogen verlaufen, was nicht für jedes Berufungsverfahren gelten dürfte. Für die Promotion und die Graduiertenschulen halte ich den Überschuss nicht für so problematisch. Eine Doktorarbeit schadet ganz sicher nicht, wenn man LehrerIn werden oder auf den außeruniversitären Berufsmarkt wechseln möchte. In Bezug auf die Studierendenauswahl sehe ich eher das Gegenteil einer Beschränkung, indem Eignungsfeststellungsprüfungen teils politisch erschwert werden oder gar nicht stattfinden. Ich war immer ein Verfechter für den zweiten Bildungsweg oder habe mich in Auswahlverfahren für Leute mit krummen Biographien eingesetzt. Man muss bei allen Auswahlverfahren aufmerksam dafür sein, dass solche Regelungen nicht eine Art Mainstream kreieren, der sehr uniform und austauschbar ist, sozusagen gehorsame Antragssteller. Die skizzierte Gesamtsituation schafft viel Existenzangst, die ich aktuell unter den sich Qualifizierenden wahrnehme. Während der Generation meines Doktor- und Habilvaters noch ging es auch um kritische Revision, politisches Engagement und um Experimentieren, wohingegen sich die gegenwärtige Generation mit einer immer weiter wachsenden Flut von Regelungen konfrontiert sieht, die sie zu erfüllen versucht. Diese Generation erfüllt dann vielleicht vorauseilend irgendwelche geglaubten Ansprüche. Ich rate eher dazu, etwas zu wagen, innovativ zu sein und nicht nur der Herde hinterherzulaufen.
promptus: In Bezug auf Open Access: Sollte man seine Dissertation einfach kostenlos auf einen Server der Hochschulen hochladen oder sollte man aus strategischen Gründen einen klassischen Verlag als Veröffentlichungsort wählen?
Kai Nonnenmacher: Die Frage ist hochaktuell, weil der Fachinformationsdienst der Romanistik plant, ein Fachrepositorium aufzubauen. Wir haben gerade im Rahmen der Beihefte zu den Romanischen Studien eine auf Spanisch geschriebene Habilitationsschrift zur Publikation angeboten bekommen, weil der Kollege so schnell die spanischsprachige Wissenschaftscommunity erreichen kann und keinerlei Druckkostenzuschuss bei uns zahlen muss. So wird schnell und hürdenlos eine Sichtbarkeit hergestellt, die mit einer teuren Printpublikation – die in Lateinamerika ja auch nicht angekauft werden würde – nicht so schnell erreicht werden würde. Gleichzeitig müssen aber auch diese Bände aufmerksam lektoriert werden, statt sie einfach so hochzuladen. Wenn es also darum geht, schnell zu publizieren, um beispielsweise den Titel zu bekommen oder weil es die Promotionsordnung so vorsieht, kann es sicherlich seine Berechtigung haben. Im Grunde geht es eigentlich um den Begriff der Reputationskultur, der im Wandel ist. Es geht eben um die Frage, wen ich mit meiner Publikation erreichen kann, z.B. was Rezensionen angeht. Darüber hinaus braucht man auch heute natürlich Instanzen, die für die Qualität eines Textes bürgen, z.B. den HerausgeberInnen einer Buchreihe. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass ja auch Begleitendes heute publiziert werden kann, wie z.B. virtuelle Forschungsumgebungen oder sprachwissenschaftliche Datensätze, die zum publizierten Forschungsergebnis geführt haben. Daneben gibt es ja auch noch hybride Publikationsformen, etwa wie bei den Romanischen Studien, dass ein Verlag nicht das exklusive, sondern nur das einfache Nutzungsrecht erhält. Die großen und vorausschauenden Verlage besitzen auf alle Fälle eine Strategie in Bezug auf Open Access, der Verwertungszwang ist ja nicht in sich böse, sondern Wirtschaftsgrundlage. Von BibliothekarInnen höre ich, dass bei hybrid publizierten Werken in Zukunft Periodika und Sammelbände nur noch digital und nur reine Monographien auch als Druckwerk beschafft werden sollen. Als Buchliebhaber sehe ich das durchaus ambivalent.
promptus: Welche weiteren Vorbehalte gibt es denn gegen digitales Publizieren?
Kai Nonnenmacher: Ein Argument, das immer gebracht wird, ist sicherlich die Sorge, ob Digitales in Zukunft nicht verloren gehen könnte. In diesem Zusammenhang empfehle ich, sich einmal anzuschauen, wie schnell Bibliotheken Teile ihrer Printbestände aussortieren, die Pathosformel von 500 Jahren Buchdruck ist da ziemliche Fiktion. Die Idee der Nachhaltigkeit von digitalen Publikationen ist inzwischen längst gelöst, es gibt keine materiellen Träger mehr wie zu Zeiten von Microfiches und CDs. WissenschaftlerInnen haben freilich bei digitalen Periodika eine ungleich höhere Aufgabenliste, ohne finanziellen Ertrag der kommerziellen Verlage, das bleibt eine Herausforderung, aber es bedeutet im Idealfall auch eine große Freiheit von deren Zwängen und Konzentration auf innerwissenschaftliche Ziele.
promptus: In den Naturwissenschaften ist es gängige Praxis, auch kumulativ zu promovieren. Inzwischen gibt es diese Möglichkeit vereinzelt auch an geisteswissenschaftlichen Fakultäten. Wie siehst du diesen Sachverhalt?
Kai Nonnenmacher: Für die Habilitation gibt es diese Möglichkeit ja bereits länger, und ich kenne exzellente ForscherInnen, die kumulativ habilitiert wurden. Mein Habilitationsvater hat abgelehnt, dass Dinge, die ich beim Habilitieren begleitend publiziert hatte, Teil der Habilitationsschrift würden, aber ich höre da inzwischen auch anderes aus dem Fach. Mir gefällt an der Idee der kumulativen Promotion zwar die Dynamik, mit der man der Forschungsgemeinschaft Ergebnisse zukommen lässt; allerdings arbeitet man in den Geisteswissenschaften oft auch als Einzige/r zu einem Thema, so dass es auf die Geschwindigkeit der Publikation – anders als beispielsweise in der Medizin oder anderen naturwissenschaftlichen Fächern – nicht hauptsächlich ankommt. Eine Promotion auf 300 Seiten anzulegen, das heißt ja auch, einen Text gut strukturiert zu planen, argumentativ aufzubauen und nicht Kapitelstückwerk zu addieren. Die Monographie ist eine Schule des Denkens, ihr Status ist ein grundsätzlich anderer als die erläuterte Versuchsreihe einer naturwissenschaftlichen Laborgruppe. Die Fähigkeit dazu muss umso mehr im Studium erlernt werden und zwar in den fachwissenschaftlichen Seminaren selbst statt in ausgelagerten Veranstaltungen zum wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben.
promptus: Wie siehst du in dem Zusammenhang den Einfluss der Digitalisierung? Wie verändern sich dadurch Methoden aber auch der Gegenstand unserer Forschung selbst?
Kai Nonnenmacher: Ich habe den Eindruck, dass auch hier die Forscherpraxis und die teils emotional geführten Diskussionen auseinanderklaffen. Ich habe bereits früh angefangen, z.B. Texte mit Texterkennung einzuscannen und so literarische Korpora zu erstellen. Auch Metadaten, die zur Erschließung von Texten helfen, sind beispielsweise sehr wertvoll, wie es z.B. die digitale Textsammlung Biblioteca Italiana handhabt. Vermutlich handelt es sich hierbei auch eher um einen symbolischen Streit, wie etwa bei der Einführung der CD oder der digitalen Fotografie. Solche ablehnenden Haltungen sind ja auch immer Teil eines Medienwandels. Der Bereich der Stilometrie lässt sich hier anführen, hierzu erscheint bald ein Beiheft der Romanischen Studien: Bestimmte Beziehungen, die man früher nicht erschließen konnte, lassen sich eben über Big Data und das sogenannte Distant Reading aufzeigen und beschreiben. Solange es aus dem Fach heraus gedacht ist, kann das sehr innovativ sein. Eine echte Verknüpfung wäre also ein Desiderat für die Zukunft. Abschließend will ich noch gestehen, dass ich selbst zerrissen bin zwischen denen, die den Verlust einer verfeinerten Buchkunst betrauern, und denen, die die kühle Pragmatik eines Datensatzes verfechten.
promptus: Herzlichen Dank für das Gespräch!
Das Interview mit Kai Nonnenmacher führten Julius Goldmann und Robert Hesselbach am 28. Juni 2018 in Bamberg.