Vortrag: „Il ne s’agissait plus d’opinions, mais de théâtre“: zur Malerei des politischen Klassizismus in Pierre Michon, Les Onze (2009)

Universität Bielefeld, Forschungskolloquium Literaturwissenschaft, 14. Juni 2016.

Politischer Klassizismus

Text zur Vortragsreihe von Dr. Jan Andres/Dr. Matthias Buschmeier

In seinem Aufsatz Racine et Shakespeare von 1823 konfrontierte Stendhal das Romantische und das Klassizistische als Formen eines jeweils unterschiedlichen Gegenwartsbezuges:

„Le romanticisme est l’art de présenter aux peuples les oeuvres littéraires qui, dans l’état actuel de leurs habitudes et de leurs croyances, sont susceptibles de leur donner le plus de plaisir possible.
Le classicisme, au contraire, leur présente la littérature qui donnait le plus grand plaisir à leurs arrierè-grands-péres.“

Der Klassizismus ist eine überholte, an den Bedürfnissen der Gegenwart vorbeigehende Kunstform, die keine Ansprüche an die Wirklichkeit macht und machen darf. Ein solches negatives, nicht-normatives Verständnis von Klassizismus gehört zu seiner weitreichenden Rezeptionsgeschichte, sei es im Vorwurf eines sterilen Gipsklassizismus, sei es in der Zurückweisung durch die explizit politischen Autoren des Vormärzes. Allenfalls repräsentiere der Klassizismus den absolutistischen und damit aus Sicht vieler Autoren des 19. Jahrhunderts politisch reaktionären feudalistischen Staat. Er sei ästhetisch verfehlt, weil er politisch verfehlt ist. Dabei wird dann ausgeblendet, dass die kohärenzstiftende Funktion des absoluten Monarchismus im 17. Jahrhundert zunächst ein Produkt rationaler Herrschaftslegitimation war und die normativen Vorgaben von politisch-sozialer Einheit ihren Widerhall in einer klassizistischen Ästhetik fand, die, gegen Stendhal gesprochen, keineswegs nur eine Angelegenheit der Alten war. Vergessen wird auch, dass in der Querelle die Modernen ebenfalls in Verteidigung des Absolutismus argumentierten, namentlich durch Charles Perrault.

Der Klassizismus war und ist umstritten, ästhetisch wie politisch. Gibt es aber überhaupt politische Programme des einen Klassizismus oder ist jeweils nach unterschiedlichen Klassizismen zu differenzieren? Wie immer man diese Fragen beantworten möchte, bleibt die Herausforderung aufzuzeigen, wie sich die Konzepte beschreiben ließen und welche ästhetischen Konsequenzen sich daraus ergeben.

Im Zentrum der Diskussion um einen politischen Klassizismus scheint die Frage nach seiner Repräsentationsfunktion zu stehen. Dass die klassizistische Formensprache im 20. Jahrhundert anfällig für die Inanspruchnahme durch politisch totalitäre Systeme war, dürfte unbestritten sein. Zugleich aber wurde sie etwa in der politischen Architektur auch als Repräsentationsform demokratischer Herrschaft genutzt. Warum aber ist dies so? Ist der Klassizismus programmatisch und semantisch „leer“, so dass er sich als Projektionsraum unterschiedlichster Phantasien und Konzepte eignet? Ist es die Unterbestimmtheit des Begriffs oder sind es die historisch diversen Referenzoptionen, die sich für einen Klassizismus anbieten und ihn für politische Inanspruchnahme so attraktiv machen? Gibt es überhaupt so etwas wie den Klassizismus als universelle Formensprache, die in unterschiedlichen Sprachen und Kulturen funktionalisiert werden kann? Oder ist es vielmehr so, dass der Begriff gar nicht unabhängig von den jeweiligen historisch-geographischen und ästhetisch-programmatischen Kontexten gedacht werden kann und daher nur als ein Epochenkonzept figurieren kann?

Die Vortragsreihe lädt Vertreterinnen und Vertreter aus der Altphilologie, der Germanistik, der Anglistik, der Romanistik und der Kunstwissenschaft ein, um über diese (und andere) Fragen anhand jeweils konkreter Materialien nachzudenken.

Ill.: Jacques-Louis David, Le Serment des Horaces (1784), online